Hungerwinter 
		1946/47
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		"Das achte Kriegsjahr" - Tausende Menschen verhungerten oder 
		erfroren
		
		Hier auf dem Land, im Raum Kevelaer, traf der Hungerwinter 
		1946/47 die Menschen nicht ganz so vernichtend wie die Bürger in den 
		Großstädten des Ruhrgebiets. 
		
		Ab Mitte Dezember 1946 fielen die Temperaturen ins Bodenlose. Während 
		der zweiten Friedensweihnacht zitterten die Menschen in unbeheizten 
		Notunterkünften bei 20 Grad Frost. Brennmaterial gab‘s nicht. 
		Winterkleidung gab‘s nicht. Nahrung gab‘s nicht. Der Strom wurde 
		abgestellt, Wasserleitungen froren zu. Schulen stellten den Unterricht 
		ein.
		
		Was die mehr als 60.000 Einwohner des Kreises Geldern auf 
		Lebensmittelkarten bekamen, war grausam wenig - zeitweilig unter 800 
		Kalorien am Tag. Im Ruhrgebiet war es noch schlimmer. Stadtbewohner 
		versuchten auf dem Land, Lebensmittel von Schwarzmarkthändlern zu 
		erstehen. Rigoros verfolgte die Militärbehörde die „Ausfuhren“ aus dem 
		Kreis Geldern, die verboten waren. Am Bahnhof Kevelaer, wo streng 
		kontrolliert wurde, spielten sich jeden Tag erschütternde Szenen ab. Die 
		armen Menschen schrien und weinten, wenn ihnen die wenigen organisierten 
		Kartoffeln weggenommen wurden. 
		
		Selbst im ländlichen Kreis Geldern, wo man im Hungerwinter Essbares 
		leichter beschaffen konnte als in den Zentren, hatte die anhaltende 
		Unterernährung schlimme Folgen: Von 1.200 untersuchten Schulkindern 
		waren 1.000 gesundheitlich angeschlagen, davon 200 schwer. 
		
		Ganz Deutschland hungerte und fror. Stuttgart zum Beispiel versuchte mit 
		70 Wärmestuben für 50.000 Menschen, seinen Einwohnern wenigstens für ein 
		paar Stunden am Tag zu helfen. Wer alt oder krank war, durfte seine 
		Wärmflasche mit heißem Wasser füllen, bevor er in sein kaltes Heim 
		zurückging.
		
		
		
Am 
		31. Dezember 1946 gab der Kölner Erzbischof Joseph Kardinal 
		Frings in seiner Predigt in der Kirche St. Engelbert seinen Landsleuten 
		moralischen Halt: Kleine Diebstähle der Hungernden und Frierenden seien 
		gerechtfertigt, wenn nur genommen würde, was der Einzelne für sich 
		selber brauche. Das „Organisieren“ von Brennmaterial und Nahrung hieß 
		fortan „Fringsen“. 
		
		
Kardinal Josef Frings.
		
		Niemand konnte sich vorstellen, dass es noch schlimmer kommen würde. 
		Aber es kam schlimmer: Die dritte Frostwelle im Januar 1947 verwandelte 
		das Land in eine eisige Hölle. Nun froren auch Flüsse und Kanäle zu. 
		Schiffe lagen fest, Eisenbahnen fuhren nicht mehr: Die Versorgung brach 
		völlig zusammen. An Kleidung für die notleidende Bevölkerung des Kreises 
		Geldern hatte die Verwaltung nur noch drei Unterhemden und zwei 
		Unterhosen zu vergeben. Man sprach im besetzten Deutschland bereits vom 
		„achten Kriegsjahr“. 
		
		In Kevelaer versuchte die Verwaltung im Januar 1947, die geplatzten 
		Hauptanschlussleitungen der Wasserversorgung reparieren zu lassen. Die 
		Bürger wurden aufgerufen, Altmetall zu sammeln und dem Rathaus zur 
		Verfügung zu stellen. Mit Hilfe dieser Rohstoffe sollten die Leitungen 
		geflickt werden.
		
		Derweil gingen im Ruhrgebiet die Hungernden auf die Straße. Der 
		„Hungermarsch der Essener Betriebe“ brachte 10.000 Menschen vor das 
		Rathaus. „Wir haben Hunger!“, skandierten sie. „Wir wollen Brot!“
		
		Die ungezählten Menschen, die die Not nicht überlebt hatten, wurden 
		vielerorts fast vier Monate lang zwischengelagert. Erst ab März, als der 
		Frost nachließ, konnte die Erde für Bestattungen aufgebrochen werden.
		
		
		Die Hungersnot spitzte sich nun noch weiter zu. Mit Streiks und 
		Demonstrationen in den Großstädten wurde von der britischen 
		Militärverwaltung verlangt, den Menschen endlich zu helfen und die 
		humanitäre Katastrophe zu stoppen. Nichts passierte - allerdings 
		schritten die Briten auch nicht gegen die verbotenen Streiks ein. 
		
		Und es kam noch schlimmer. Nach der arktischen Kälte entwickelte sich 
		der heißeste Sommer seit Jahrzehnten - mit Temperaturen bis 40 Grad im 
		Schatten. Die Natur verdorrte. Von den Feldern „ernteten“ die Bauern nur 
		die Kartoffeln, die sie gesetzt hatten.
		
		
Die Wende wurde am 5. Juni 1947 eingeläutet: Vor 
		Studenten der Harvard-Universität skizzierte der amerikanische 
		Außenminister George C. Marshall seine Vorstellungen von einem 
		Hilfsprogramm für Europa. Der Marshallplan, im April 1948 in den USA 
		verabschiedet, nützte allen: den notleidenden Völkern in Europa, der 
		Abwehr des kommunistischen Einflusses im Westen und der amerikanischen 
		Industrie, die Abnehmer für ihre Überproduktion fand.
		