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		Die Kaufleute an der Bahnstraße schreiten selbstbewusst voran: Sie 
		bringen als erste in der City Weihnachtsschmuck an. 
		
		An der Busmannstraße wird das Schuhhaus Sinsbeck neu eröffnet. Dort, wo 
		die „alte Wache“, das Arrestlokal, an der Ecke zur Annastraße gestanden 
		hat, lädt das Geschäft - neben dem alten - ab dem 1. Dezember Kunden zum 
		Kaufen ein. In sieben großen Schaufenstern zeigt Willi Diepmann nun 
		seine Ware. Neu im Sortiment: Sportartikel und Strümpfe.
		
		In Zeitungsannoncen preisen Kevelaerer Geschäftsleute nicht nur ihre 
		Artikel an, sondern auch ihre Telefonnummern. Sie sind dreistellig.
		
		
		Anfang Dezember finden sich alte Velden-Pilger im Bürgerhaus zusammen. 
		Peter van de Meer († 1961), der schon vor dem Krieg Kevelaerer nach 
		Velden bei Venlo geführt hat, stellt die Vorbereitungen vor. Schon 125 
		Jahren zuvor sind Kevelaerer nach Velden zum Hl. Andreas gepilgert - zu 
		Fuß und mit Fuhrwerken. 
		
		In der Prozession am 3. Dezember wird eine große Kerze als Stiftung für 
		die Wallfahrtsstätte mitgeführt. Für die Pilger aus Kevelaer wird ein 
		eigenes Hochamt in Velden zelebriert. Es ist die erste Pilgerreise nach 
		zwölfjähriger Pause. Aber die Teilnehmer dürfen in Holland nicht zu Fuß 
		pilgern. Sie müssen einen Bus benutzen. Ein Teil der Gruppe pilgert 
		trotzdem zu Fuß, und zwar bis zum Grenzübergang Lingsfort. Dort steigen 
		die Kevelaerer in einen holländischen Omnibus, der sie nach Velden 
		bringt.
		
		Im Dorf Velden hat sich viel verändert. Der Kirchturm ist stark 
		beschädigt, die Kirchenfenster, die ein Kevelaerer Velden-Pilger 
		gefertigt hat, sind zerstört. „Groß war aber ihre Freude, als sie den 
		seitlich des Andreasaltares eingemauerten Stein mit der Inschrift ‚1570 
		- 1933 Kevelaerer Pilger an St. Andreas‘ noch unversehrt fanden“, heißt 
		es in der Chronik. Es handelt sich um den Gedenkstein, den die 
		Kevelaerer Wallfahrer für den Neubau der Kirche gestiftet haben. Er ist 
		von August Dierkes aus der Marienstadt gemeißelt worden. 
		
		Die Pilger aus Kevelaer werden überall gastfreundlich aufgenommen. Jeder 
		spürt, dass sie nicht nur fromme Nachbarn, sondern auch Botschafter 
		ihres Landes sind. Niemand hat den Überfall der Niederlande und die 
		Besetzung des Nachbarlands durch die Deutschen wenige Jahre zuvor 
		vergessen. 
		
		
Am Nikolaustag frieren viele Menschen im Kreis Geldern. 
		Kohle ist knapp geworden. Die Lager der Händler sind leer. Die 
		Bevölkerung ist verbittert, denn der Mangel an Brennmaterial ist kein 
		unabweisbares Schicksal, sondern Ergebnis der hohen Exportquoten, zu 
		denen die Bundesrepublik verpflichtet ist. Die Bonner Regierung erhebt 
		gegenüber den Alliierten energischen Einspruch. Von den erhöhten 
		Kohlförderungen müsse ein Teil der Not leidenden deutschen Bevölkerung 
		zu Gute kommen. Die Lage in der Hausbrandversorgung sei „ungewiß und 
		besorgniserregend“. 
		
		Für die Wiedereingliederung der Deutschen in die Gemeinschaft der 
		zivilisierten Menschen leisten die Kirchen wichtige Dienste. Unter ihrem 
		Schirm blüht in Kevelaer die Jugend auf. Jung-Kolping, Jung-KKV und 
		weitere Gruppen der katholischen Jugend bekommen mit dem Don-Bosco-Heim 
		über dem Fahnensaal des Priesterhauses ein neues Zuhause. Dechant
		
Heinrich 
		Maria Janssen segnet das Heim Anfang Dezember. Der Neuanfang 
		Deutschlands führt über die Jugend. 
		
		Es wird ein stiller Advent. Der Dezember 1950 bleibt ein relativ 
		ereignisarmer Monat, eine besinnliche Wartezeit bis zum Weihnachtsfest. 
		60 Jahre später wird die Adventszeit um ihre Existenz kämpfen. 
		
		
Kevelaer zählt mittlerweile 10.600 Einwohner. Mehr als 
		jeder Zehnte ist Ostvertriebener. Erfreulich: 202 Kinder sind hier in 
		diesem Jahr geboren worden. Kevelaer wächst, denn den Geburten stehen 
		nur 92 Sterbefälle gegenüber. 
		
		1950 haben 1.600 Kevelaerer Anträge auf Regulierung von Kriegsschäden 
		gestellt, die auf einen Wert von 7,8 Millionen DM beziffert werden.
		
		
		In den katholischen Schulen der Marienstadt unterrichten 26 Lehrkräfte 
		etwa 1.400 Kinder in 27 Klassen. Dazu kommen die evangelische 
		Volksschule, in der zwei Lehrkräfte 90 Kinder betreuen, und die 
		Hilfsschule mit 30 Kindern.
		
		Die Wohnungslage in Kevelaer ist nach wie vor mangelhaft. Viele 
		Wohnungen sind überbelegt, denn es stehen weniger Wohnhäuser als vor dem 
		Krieg zur Verfügung, und das bei deutlich erhöhter Einwohnerzahl.
		
		

Ende 
		des Jahrs 1950 feiert Amtsdirektor
		
Fritz Holtmann 
		(* 1897, † 1970) sein 30-jähriges Dienstjubiläum. Mit kriegsbedingten 
		Unterbrechungen ist Holtmann seit 1921 im Kevelaerer Rathaus tätig. 
		Anfangs leitete er das Wohnungsamt der Bürgermeisterei, danach das 
		Wohlfahrtsamt und während des Kriegs das Wirtschaftsamt. 
		
		Fritz Holtmann 
(Bild) konnte als politisch unbelasteter 
		Verwaltungsexperte nahtlos ins Rathaus zurückkehren, als die britischen 
		Besatzer den Neuanfang einleiteten. Seine offizielle Ernennung als 
		Amtsdirektor des Amtes Kevelaer erhielt er zum 1. Januar 1946 von 
		Landrat Deisinger. Der Kevelaerer meisterte die ebenso schwere wie 
		verantwortungsvolle Aufgabe, die Rathausverwaltung nach den Gesetzen der 
		von den Briten eingeführten Demokratie aufzubauen. Erheblich erschwert 
		wurde der Start dadurch, dass fast alle Akten durch die Kriegswirren 
		verloren gegangen waren. 
		
		Auf seiner Jubiläumsfeier im Rathaus, die am Neujahrstag stattfindet, 
		würdigen Persönlichkeiten des weltlichen und kirchlichen Lebens die 
		Leistung des Kevelaerers. Amtsbürgermeister
		
Peter Plümpe 
		erinnert an die großen Aufbauschwierigkeiten, die Holtmann bewältigt 
		habe. 
		
		Dechant Heinrich Maria Janssen weist auf das vorbildliche familiäre 
		Verhältnis hin, das in Kevelaer herrsche, und hebt „die väterliche Sorge 
		und Liebe“ hervor, mit der Holtmann diese große Familie betreue. 
		Zugleich im Namen von Wallfahrtsrektor
		
Fritz Dyckmans
		dankt Janssen dem Jubilar für das große Verständnis, das er den 
		Wallfahrtsbelangen entgegenbringe. Der Dechant betont, dass sein 
		Vorgänger Wilhelm Holtmann in Aufzeichnungen die verständnisvolle 
		Zusammenarbeit des Amtsdirektors mit der Pfarrverwaltung in den schweren 
		Nachkriegsjahren mit besonderer Anerkennung vermerkt habe.
		
		Im Namen der Beamten, Angestellten und Arbeiter des Amtes und der Stadt 
		spricht Amtsoberinspektor Güllmann dem Verwaltungschef Glückwünsche aus. 
		Ebenso gratulieren die Fraktionsführer der vier in Amtsvertretung und 
		Stadtrat vertretenen Parteien.
		
Willy Dierkes 
		(CDU) betont, dass die harmonische Zusammenarbeit zwischen den einzelnen 
		Parteien in erster Linie der verständnisvollen, weise abwägenden Haltung 
		des Amtsdirektors zu verdanken sei. Stadtvertreter Ginters (FDP) und 
		Wilbers (Zentrum) heben gleichfalls das gute Einvernehmen zwischen den 
		Fraktionen und die Bemühungen des Jubilars um Einigkeit hervor, während 
		Stadtvertreter Fegers (SPD) das Verdienst des Amtsdirektors um die 
		sozial schwächeren Bürger würdigt. 
		
		
In Twisteden eröffnen die Sicherungsmaßnahmen für die 
		alte Twistedener Kirche, über die wir schon gelesen haben, neue 
		Möglichkeiten. In Abstimmung mit dem Landeskonservator wird am alten 
		Chor eine Wand errichtet, die das „Loch“, das nach Abriss der später 
		angefügten Gebäudeteile entsteht, abschließt. 
		
		Die stilistisch als unpassend empfundene Sakristei wird aber nur bis zu 
		einer Höhe von zwei Metern abgebrochen. Das verbleibende Mauerwerk wird 
		mit Erde verfüllt, so dass eine Empore entsteht. Auf dieser Empore, so 
		wird nun beschlossen, soll ein Ehrenmal für die Gefallenen der Gemeinde 
		Twisteden errichtet werden. 
		
		Im Blickpunkt steht dann die Kreuzigungsgruppe, die sich zuvor an der 
		Außenwand der Kirche befunden hat und nun zur Rückwand des neuen Giebels 
		des Gotteshauses verlegt wird. Hier überragt sie die Ehrenstätte. Später 
		wird der Raum vor der Kreuzigungsgruppe, zu dem ein Treppenaufgang von 
		der Seite her emporführt, mit Grün und Blumen geschmückt. Auch eine 
		Gedenktafel mit den Namen der Gefallenen gehört zu dem Projekt, mit dem 
		bald begonnen werden soll. 
		
		So wie in Twisteden entstehen allerorten Gedenkstätten für die 
		Kriegsopfer. Das den Familien angetane Leid ist noch gegenwärtig. 
		
		Aber der Krieg ist vorbei, und die Gedanken der meisten Menschen sind im 
		Alltag auf die Gegenwart und Zukunft konzentriert. 
		
		Das können sich „die Bonner“ nicht leisten. Die Politik der 
		Adenauer-Regierung ist eine ständige Gratwanderung zwischen 
		Verpflichtung und Selbstbehauptung. Der Bundeskanzler muss zwischen der 
		Mitverantwortung für die Verteidigung des westlichen Europas gegenüber 
		der als akute Bedrohung empfundenen Sowjetunion und der Zumutung, dass 
		Deutsche nicht über deutsche Soldaten befehlen dürfen, einen für alle 
		Seiten tragbaren Kompromiss auspendeln.
		
		Die Lage ist eindeutig: Der Westen verlangt von der Bundesrepublik 
		enorme Anstrengungen zur Verteidigung und fordert zugleich restlose 
		militärische Unterordnung unter die Befehlsgewalt der Westalliierten.
		
		
		Selbst Frankreichs Außenminister Robert Schuman, kein Erzfeind der 
		Deutschen, will der Bonner Regierung keine Eigenständigkeit zubilligen. 
		Die Frage, wie die Deutschen in die Verteidigung des Westens 
		einzubeziehen seien, beantwortet er so: „(Wir) wünschen nicht, daß 
		deutsche Einheiten zu irgendeinem Moment, auch nicht vorübergehend, zur 
		Verfügung einer deutschen Regierung stehen.“
		
		Das Misstrauen gegenüber den Deutschen ist so tief verwurzelt und nach 
		zwei Weltkriegen auch so berechtigt, dass die Bonner Regierung nur 
		diesen Ausweg aus der bedrohlichen und verfahrenen Situation sieht: 
		Deutschland muss sich eindeutig im politischen Westen verankern und sich 
		zur Allianz mit den Amerikanern bekennen.
		
		Der Zeitpunkt, an dem eine Wiedervereinigung mit Billigung der Sowjets 
		vielleicht erreichbar gewesen wäre - der Preis wäre wohl die Neutralität 
		der Bundesrepublik gewesen -, ist längst vorbei. Selbst wenn Adenauer in 
		der ersten Zeit nach dem Krieg, so wie ihm Kritiker vorhalten, wegen der 
		von ihm gewollten, klaren Bindung Deutschlands an den Westen Chancen für 
		eine frühe Wiedervereinigung verpasst haben sollte - jetzt steht der 
		Kanzler ohne Alternative da. 
		
		An der Elbe, auf deutschem Boden, baut sich eine Furcht erregende 
		sowjetische Macht auf. Die Bonner Politiker befürchten, dass 
		Westdeutschland im Falle eines dritten Weltkriegs zum Aufmarschgebiet, 
		Hauptkriegsschauplatz und am befürchteten Ende zur verbrannten Erde 
		wird.
		
		Die Angst vor einem schutzlos preisgegebenen Deutschland wird auch von 
		dem Vorsitzenden der SPD, Dr. Kurt Schumacher, geteilt. Er spricht wohl 
		für alle Deutschen, als er Ende 1950 erklärt, das deutsche Volk wünsche 
		nicht, dass sein Land als Hauptkampffeld ins Auge gefasst werde.
		
		Schumacher fordert „die Stationierung ausreichender alliierter 
		Streitkräfte an der Elbe“. Denn: „Wir Deutschen passen nicht für die 
		Rolle von Partisanen oder für die einer Nachhut für ein neues 
		Dünkirchen.“ Die Kampfhandlungen müssten im Falle eines sowjetischen 
		Angriffs auf Westeuropa „sofort nach Ost getragen“ werden. Bis zur 
		deutschen Wiederbewaffnung, die zwei bis drei Jahre dauere, sei 
		Deutschland ohne wirklichen Schutz.
		
		Enttäuscht ist Schumacher über den vom französischen Außenminister 
		vorgeschlagenen und von den Amerikanern übernommenen Kompromissplan: 
		Deutsche Armee-Kontingente sollen in die atlantische Armee integriert, 
		aber nicht von Deutschen befehligt werden. Mit diesem Plan hätten die 
		Amerikaner, so Schumacher, ihr Versprechen gebrochen, den Deutschen 
		volle Gleichberechtigung im Falle ihrer Beteiligung an der Atlantikarmee 
		zu gewähren.
		
		Deutschland steht, mehr als die Kevelaerer am Jahresende 1950 ahnen, vor 
		aufregenden Zeiten.
		
		
		
		
		
		
		
		
		